Im südlichsten Zipfel Montenegros

30. Oktober

Wie seit fast drei Wochen begleitet uns auch heute die Sonne, als wir den Wiesenplatz am Rijeka Crnojevica verlassen. Die Strecke, die wir schon mit dem Fahrrad erkundet haben, fahren wir nun mit Biene bis nach Virpazar. Der im Reiseführer beschriebene „hübsche Anblick rustikaler Steinhäuser“ und des Partisanen-Denkmals wird wortwörtlich von einer riesigen Bauruine aus Beton überschattet, die mitten im kleinen Zentrum am attraktivsten Platz thront und den Ort verschandelt. Über den zum See führenden Fluss gibt es noch eine alte Steinbrücke und unzählige Boote, die darauf warten, dass sich die wenigen Touristen für eine Bootstour auf dem See entscheiden. Entscheidungshilfen möchten deren Besitzer geben, die uns aufdringlich ansprechen. Hier haben wir nichts verloren und machen uns mit Biene auf den Weg über die Bergflanke.

Virpazar, alte Steinbrücke

Wir wollen heute die Panoramastraße P16 im Süden des Skadar-Sees entlangfahren und uns unterwegs ein Plätzchen zum Übernachten und Radfahren suchen. Die Straße erweist sich als sehr schmal, sodass man bei entgegen kommenden Fahrzeugen immer wieder in die glücklicherweise recht zahlreichen Haltebuchten ausweichen muss, da auf der Fahrbahn nur ein Auto Platz hat. Nach einigen Kilometern stehen wir im Stau: Weiter vorne werden Teile der Straße gerade neu asphaltiert. Während der Wartezeit können wir gemütlich im Auto frühstücken, nach einer guten halben Stunde geht es weiter.

Mühsames Höherschrauben, enge Kurven und steile Abgründe sowie der rege Gegenverkehr fördern die Adrenalinausschüttung. Hinzu kommt, dass zwar einige Löcher asphaltiert wurden, die Straße aber über weite Strecken sehr rumpelig ist. Nach etlichen Kilometern stellen wir fest, dass sich die Fahrradhalterung durch die Rüttelei stark verbogen hat und die Fahrräder nun schräg auf der Halterung hängen. Also wird alles abmontiert, möglichst wieder gerade gebogen und mit zusätzlichen Zurrbändern gesichert. Das Auto ist zwar ein Allrad- Fahrzeug und auch für schwierige Straßenverhältnisse gemacht, wohl aber nicht die Fahrradhalterung.

Nach einigen weiteren Kilometern stellen wir fest, dass wir an dieser Straße schwerlich einen Übernachtungsplatz finden werden und außerdem auch nicht gut Radfahren können werden, da sie zu schmal und zu schattig ist. Also steht bald der Entschluss, in Ermangelung einer Alternative denselben Weg wieder zurück zu nehmen und dann über die Schnellstraße nach Bar an die Küste zu fahren. Wir genießen noch ein paar schöne Ausblicke auf den Skadar-See und sind schneller als gedacht durch den Sozina- Tunnel in Bar.

Hinter Stari Bar, am Fuß des Rumija- Gebirges gelegen, schraubt sich Biene wieder empor bis zu einem Platz an einem kleinen Friedhof, auf dem wir übernachten. Von hier aus können wir auf die Stadt Bar hinunterschauen.

31. Oktober

Schon um 9.30 Uhr – wegen der Zeitumstellung extra früh – starten wir zu einer Radtour über die permanent steil bergan führende, kaum befahrene Straße. Zunächst radeln wir durch Olivenhaine, dann durch den kleinen Ort Tudemili, immer nur bergauf bis auf den 859m hohen Tvrdoc.

Oben auf dem Pass, der uns Ausblicke nach Norden auf die Südküste des Skadar-Sees ermöglicht, finden wir wieder zwei „lost places“ vor – immer an den schönsten Stellen mit den besten Aussichten.

So langsam es bergauf ging, so schnell geht es wieder bergab. Durch die Olivenhaine oberhalb von Stari Bar geht es, an einem Café mit Aussicht trinken wir noch einen Kaffee, dann, nach dem Aufladen der Räder, in die Marina von Bar.

Bar liegt am Fuß des Rumija- Gebirges und trennt die montegrinische Riviera von der Küste bei Ulcinj. Die Stadt ist zweigeteilt, oben am Berg das alte Bar, Stari Bar, und unten an der Küste das moderne Bar mit dem großen Fähr- und Verladehafen und der Marina. Die Neustadt entwickelte sich erst nach 1877 und ist heute eine moderne, weitläufige und relativ saubere Stadt mit zahlreichen Neubauten und einer guten Infrastruktur. Hier am Hafen befindet sich auch die Endstation der ganz besonderen montenegrinischen Eisenbahnlinie, „Titos Gebirgsbahn“.

Nach 1944 entwickelte sich Bar zum bedeutendsten Hafen Montenegros. Nachmittags machen wir noch einen Spaziergang in der Marina, in der viele Luxusyachten liegen, in der sich aber auch eine große Halde kaputter oder zu restaurierender Schiffe befindet.

Am Abend gehen wir in der Stadt essen und sind anschließend fast allein auf dem Parkplatz am Hafen.

Am nächsten Morgen machen wir uns auf in die Altstadt, die heute – bis auf etliche Souvenirläden in der steilen Straße vor der Stadtmauer – nach über 2000 Jahren Siedlungsgeschichte verlassen ist. Sie wurde zuletzt bei dem großen Erdbeben 1979 fast vollständig zerstört, in den letzten Jahren aber zu einem Teil rekonstruiert. Malerisch liegt sie oberhalb Bars an den Hängen des Rumija- Gebirges.

Blick auf Stari Bar

Wir gehen am restaurierten Uhrturm vorbei hinauf zur Zitadelle, stöbern durch die zugewachsenen Gassen und in den halb zerstörten Mauern der Wohnhäuser, schauen den zur Hälfte wieder aufgebauten Pulverturm, etliche Kirchen, den venezianischen Palast und die Ruinen des Fürsten- und Bischofspalastes an und erfreuen uns immer wieder an den Ausblicken.

Die Gegend um Bar und südlich um Ulcinj ist für ihre besonders schmackhaften und zahlreichen Olivenbäume bekannt. Nach dem Besuch in Stari Bar fahren wir über den Küstenabschnitt nach Süden, auf dem große Olivenhaine mit uralten Bäumen zu sehen sind. Das Olivenöl aus dieser Gegend gilt als das beste Montenegros und wird an jeder Ecke und an vielen Straßenständen angeboten. Es wird in Steinmühlen kalt gepresst. Auffällig sind die zahlreichen Löcher in den Stämmen der Bäume, von denen man nicht genau weiß, woher sie stammen. Theorien besagen, dass die Baumrinde sich mit den Jahren dehnt, aber nicht an jeder Stelle, oder dass Pilze diese Löcher verursachen – wir finden nicht mehr heraus.

Olivenhain nördlich von Ulcinj

Bei einem Spaziergang in das nahegelegene Dorf Maslinjaci lernen wir bei einem Kaffee zwei junge Montenegriner kennen. Sie sprechen uns auf Deutsch an und erzählen zu unserem Erstaunen, dass man in Ulcinj, der nächstgelegenen Stadt, Deutsch als zweite Fremdsprache in der Schule lernt. Es wird eine interessante Unterhaltung. Sie erzählen, dass 85% aller Bewohner Ulcinjs Albaner seien wie sie selbst auch, und dass man dort häufiger albanisch als andere Sprachen spreche, aber neben montenegrinisch auch italienisch, serbisch und eben Deutsch. Die beiden kennen Deutschland gut und zeigen viel Wissen über die deutsche Politik und die politische Struktur. Wir erfahren zudem Wissenswertes und Interessantes über Ulcinj, wie auch, dass der Dichter Cervantes angeblich fünf Jahre in der Zitadelle von Ulcinj eingesessen haben soll, und dass der Name der imaginären Geliebten Don Quijotes, Dulcinea, sich von dem Namen der Stadt ableiten soll.

Die Nacht auf den 2. November verbringen wir an einem Aussichtsplatz auf einem Berg oberhalb einer schön gelegenen, einsamen Bucht, die heute leider nur noch tagsüber betreten werden darf. Zum ersten Mal seit Langem wachen wir bei verhangenem Himmel und Nieselregen auf und beschließen, einen Stadtbesuch in Ulcinj zu machen.

Ulcinj vom Hafen aus, noch bei Sonne

Ulcinj ist die südlichste Stadt Montenegros. Sie ist muslimisch geprägt, es gibt zahlreiche Moscheen und Minarette, und der Muezzin ruft alle drei Stunden zum Gebet. Die offizielle Stadtsprache ist albanisch, und man fühlt sich in den engen Straßen ein wenig an orientalisches Straßenleben erinnert. Die meist mehrstöckigen Gebäude der Stadt quetschen sich in die enge, steil ansteigende Bucht. Hotels und Appartements gibt es, aber alles ist in die bestehende Stadtstruktur eingefügt. Wie ein Touristen- und Badeort wirkt die Stadt nicht.

Was immer wieder auffällt, ist die Vorherrschaft der Autos. Gehwege sind nicht oder kaum vorhanden, und wenn, dann mit Baumaterial, Blumenkübeln oder Autos vollgestellt. Aber wozu braucht man Fußwege, wenn man nicht zu Fuß geht? Fußgänger sehen wir nämlich nur unmittelbar vor und in den Geschäften.

Auch Ulcinj ist eine Stadt mit einer über 2500jährigen Geschichte; Reste einer illyrischen Mauer sind in der mit einer Stadtmauer umgebenen Altstadt noch vorhanden. Die Stadt blickt auf eine wechselvolle Geschichte unter unterschiedlichen Herrschern zurück, von Illyrern über Römer, Osmanen, serbischen Stämmen, Mongolen, Venezianern, Türken… und letztlich war Ulcinj auch eine gefürchtete und geachtete Piratenhochburg. Das Friedensdenkmal ist halbherzig soweit angestrichen, wie die Arme reichen… die neue Bepflanzung versinkt im Müll.

Friedensdenkmal

Die Altstadt betreten wir durch das Südtor, unmittelbar am kleinen Hafen gelegen. Viele der alten venezianischen und serbischen Paläste sind heute zu Hotels und Restaurants umgebaut, außen stilgerecht restauriert und mit unzähligen Treppen versehen. Wir folgen den verschlungenen Gassen bis hoch hinauf zur Zitadelle mit dem davor liegenden Marktplatz. Wir scheinen die einzigen Touristen hier zu sein, die Gässchen und Restaurants sind leer und verlassen, das Museum ist geschlossen. Die Bodenbeläge der Wege werden offenbar gerade saniert, zum Teil sind Löcher und Spalten mit Brettern oder Metallmatten überdeckt.

Blick auf die Altstadt vom Hafen aus
Eingang zur Zitadelle

Nach dem Besuch Ulcinjs suchen wir uns etwas weiter südlich an der Küste bei Donij Stoi ein ruhiges Plätzchen, um die Weiterreise durch Albanien zu planen und die angekündigten Regentage abzuwarten. Die Campingplätze – nahezu einziges Zeichen von Tourismus in dieser flachen, kargen Landschaft – sind alle geschlossen. Einsam steht Biene auf einem der Sand- und Kiesplätze nahe dem Meer.

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